Böses Erwachen
Ich wache auf. Mir ist bitter kalt. Wo bin ich? Ich zittere, was soll das, warum ist es hier so kalt? Mein Schädel brummt. Ein paar mal bin ich wieder eingeschlafen, dann hörte ich immer wieder Stimmen, langsam zieht der Narkosenebel weg und die Puzzel-Teile in meinem Kopf fügen sich. Ich bin im Iran. Mein gebrochenes Bein wurde gerade operiert. Ich spüre nichts, ist mein Bein überhaupt noch da? Wo ist Susi? Wie lang war ich weg? Die Reise, ja die Reise ist vorbei, verdammt, ich bin im Iran und so ziemlich KO.
Einem Krankenpfleger fällt auf, dass ich wach bin. Einige Kabel und Schläuche werden von mir abgesteckt und entfernt. Ich bin auf der Aufwachstation. Er bringt mich in mein Zimmer zu Susi.
Ah jetzt kommt langsam alles wieder. Ich wurde heute früh zum OP gebracht. Viele Mitarbeiter haben sich bei mir vorgestellt, sie waren alle sehr nett und sagten, ich solle mir keine Sorgen machen. Der Anästhesist sprach super Englisch und hatte sich mit mir unterhalten, er fragte die üblichen Fragen über andere OPs, Narkosen oder Allergien aber auch über unsere Reise und den Unfall. Er fragte auch ob ich Angst habe oder Stress spüre, nein sagte ich, überhaupt nicht, wirklich nicht. In dem Moment und in der Situation, in der ich mich befand, war es glaube ich das beste, den Iranischen Ärzten zu vertrauen, das ist das letzte woran ich mich erinnere.
Susis Bericht
Ich hatte noch nie so viel Angst und habe noch nie so viel geheult. Ich weiß, dass es ein Routineeingriff ist aber zusammen mit den ganzen Geschehnissen gestern und dass wir in einem so fremden Land sind, gehen meine Emotionen mit mir durch und ich sehe die schlimmsten Szenarien vor meinen Augen. Ich versuche mich mit "sinnvollen" Tätigkeiten abzulenken, versuche den ADAC oder die Deutsche Botschaft zu erreichen (unmöglich) und informiere die Familie. Als Samu endlich ins Zimmer gebracht wird, beruhige ich mich wieder etwas.
Ein Deutscher ist im Krankenhaus
Ich bin berühmt geworden im Iranischen Krankenhaus. Ohne Witz, ich bekam Besuch von fremden Leuten, die zufällig im Krankenhaus waren und gehört haben, dass da ein Deutscher liegt, der einen Unfall hatte. Eine Gruppe kam herein, Mister Shirazi samt Familie war schon da, und sie stellen sich vor. Sie kommen aus Shiraz, eine Stadt die wir auf unserer Reise besuchen wollten. Sie haben von mir und dem Unfall gehört und gaben mir ein kleines Geschenk und eine Visitenkarte. Ich soll, wenn ich wieder fit bin unbedingt bei denen Vorbei kommen, sie haben in Shiraz einen Fahrrad Club ("Biker Club") und sie würden sich sehr über unseren Besuch freuen. Auch der frisch verheiratete Hamid und seine Frau Neda kamen und erkundigten sich nach meinen Zustand. Ich soll ihn,wenn ich entlassen werde, unbedingt besuchen.
Der Arzt kann doch sprechen
Der englischsprachige Arzt, der mich operiert hat und gestern Abend nur mit einem Kopfschütteln bedacht hat, soll gleich zur Visite kommen. Mein Bein wird frei gelegt und ich sehe zum ersten mal die Wunde, sie ist riesig, unglaublich. So viele Nähte. Sowas habe ich noch nie so nah gesehen und vor allem nicht an meinen Körper. Wann soll das alles wieder heile sein? Der Arzt erbarmt sich doch noch zu einigen Worten, nachdem er wieder mein Knie und den operierte Bereich zusammendrückt bis Blut an den Nähten raus kommt. "Everything is good, don't worry, three months no weight bearing". Das war alles. Er dreht sich um und geht. Was bedeutet "no weight bearing"? Drei Monate!? Das kann doch nicht wahr sein? Er meint bestimmt ich kann bald laufen und "three months" soll ich vorsichtig sein. Dann hieß es, ich bleibe heute und morgen noch im Krankenhaus und dann kann ich schon nach Hause gehen. Was sollen wir jetzt machen? Wo soll ich so lange bleiben? Wohin mit den Motorrädern? Was ist mit den Visas? Wann kann ich denn verdammt nochmal wieder laufen? Wann kann ich wieder Motorrad fahren? So viele Fragen und keine Antworten. Wen soll ich fragen?
Hotel Shirazi
Mr. Shirazi kommt tatsächlich zwei mal pro Tag zu Besuch um uns leckeres iranischen Essen zu bringen. Von Malekan nach Maragha sind es immerhin 40Km. Ich kann kaum was runter schlucken und tut es mir echt leid für die Mühe, aber ich bin so kaputt dass ich auch während sie da sind, immer wieder einschlafe. Er kommt meistens nicht alleine sondern bringt immer Freunde, Verwandte oder seine Frau und die Kinder mit. Das Krankenhauspersonal ist sichtlich nicht erfreut über unsere vielen Besucher, denn Mr. Shirazi hält sich nicht an die Besucherzeiten. Wir verstehen nicht so ganz warum er sich so sehr um uns kümmert, dass die Iraner sehr nett sind das wussten wir und haben es bereits erlebt, aber dass sie so weit gehen können, konnten wir uns nicht vorstellen. Sowas kennen wir nicht.
Aber es wird noch abgefahrener. Wir überlegen schon, wie wir mich und unsere Sachen in ein Hotel transportieren können, als Mr. Shirazi uns nochmal mit reichlich Essen besuchen kommt und uns alternativlos eröffnet, dass wir morgen zu ihm nach Hause gebracht werden und bei ihm so lange bleiben können, wie wir wollen. Und tatsächlich. Am nächsten Tag erledigt er den ganzen Papierkram (leider nicht optimal, wie sich später herausstellt) und will mich mit einem Rollstuhl in sein Auto verfrachten. Das geht nicht! Mein Bein muss hoch gelagert werden und tut beim Absenken höllisch weh! Wieder mal: kein Problem. In wenigen Minuten hat er einen Krankentransport organisiert, dieser kostet einen Haufen Kohle, denn es war medizinisch nicht notwendig, aber er sagt uns nichts davon. Langsam wird dieser Mann unheimlich. Er sagte, dass er im Krankenhaus arbeitet, er ist kein Arzt und kümmert sich ehrenamtlich um die Abteilung für Dialyse-Patienten.
Als wir in Malekan, dem Unfallort, ankommen, hält der Krankenwagen vor einem typisch iranischen, mehrstöckigen Wohnhaus. Die Krankenpfleger öffnen die Türen, gehen ins Treppenhaus, ziehen die Schuhe aus (ja - das wird hier sehr ernst genommen!) und wuchten die Trage in den dritten Stock. Mitten im großen Wohnzimmer steht ein Bett - extra für mich aufgestellt. Hier werde ich also die nächste Zeit verbringen. Ich hatte auf ein Haus mit Garten gehofft, da uns bewusst war, dass dieser Mann wohlhabend sein muss. Allerdings gibt es hier nur auf dem Land Häuser mit Garten. Reiche Leute haben schön eingerichtete Wohnungen in der Stadt, mit den typisch für Iran dicken Vorhängen oder verdunkelten Fenstern. Die Privatsphäre ist hier enorm wichtig.
Familienleben
Yasin ist ungefähr dreieinhalb, Hussein elf. Mister Shirazi hat mit seiner Frau Azize diese zwei Söhne und wir werden zu Amu (Onkel) Samuel und Abgi (Schwester) Susi hochgestuft. Keiner spricht Englisch (naja, Hussein kann bis zehn zählen). Dennoch klappt die Kommunikation hervorragend. Mit Händen und Füßen, mit Google Übersetzer und mit Susis kleinem persischen Wortschatz. Es ist erstaunlich wie schnell sie alle gelernt haben mit uns zu kommunizieren obwohl sie bis jetzt nie mit Ausländern zu tun hatten. Morgens bereitet uns Azize gegen neun Uhr Frühstück zu, dann gibt es immer Melone als zweites Frühstück. Samstags bis Mittwochs ist Shirazi in der Arbeit und Hussein in der Schule. Donnerstag und Freitag ist wie bei uns Wochenende. Am Nachmittag wird dann zusammen Mittag gegessen und dann ein Mittagsschlaf gehalten. Sie haben ein ganz normales Schlafzimmer mit einem großen Doppelbett aber sie nutzen es nicht und schlafen alle zusammen in einem anderen Zimmer am Boden auf Decken. Auch Susi möchte lieber auf Decken am Boden neben meinem Bett schlafen. Yassin ist die ganze Zeit bei uns und liebt es mit uns zu spielen (er hat ein unendliches Energievorkommen!). Hussein hilft Susi, ihre Farsi-Kenntnisse zu verbessern, was sehr gut klappt. Die Familie bekommt jeden Tag Besuch, wirklich jeden Tag, meist zum Nachmittags-Cay und/oder zum Abendessen gegen 21 Uhr. Es kommen jeden Tag Familienmitglieder und Freunde aber auch Geschäftsleute kommen die mit Mr. Shirazi sprechen möchten. Nachdem der Besuch geht, gibt es so um 1 Uhr noch mal Wassermelone oder Eis. Wassermelone und Tee gibt es mehrmals am Tag. Unser Schlafrhythmus passt sich an. Wir fühlen uns wohl aber auch über-umsorgt. Wir machen Azize so viel Arbeit und sie trägt wegen mir den ganzen Tag das Kopftuch (Susi aus Respekt natürlich auch).
Lustige Verwirrung
Immer wieder möchte Susi bei der Arbeit im Haus helfen, doch wird ihr nur Rahat (rumänisch Scheiße) und Beshin (rumänisch Pups) entgegnet. Was soll das jetzt wieder heißen? Die Übersetzungsapp spuckt nichts gescheites aus, Susi bittet Hussein die Wörter zu schreiben. Aaaah, ok. Also Rahat heißt so viel wie "mach's dir gemütlich" oder "entspann dich" und Beshin "setz dich". Wir witzeln immer noch mit den Wörtern rum.
Ein Unfall in Iran
Als wir schon bei Shirazi waren schreibe ich meinem Vorgesetzten in Deutschland, dass ich im Iran bin und was passiert ist und schickte ihm ein Bild mit mir im Krankenhaus. Keine gute Geschichte. Das verbreitet sich schnell in der ganzen Firma. Ein andere Kollege schrieb mir "wir haben gehört, dass du im Iran bist und einen Unfall hattest" Ich musste fast lachen und fragte ihn, was klingt denn schlimmer, dass ich im Iran bin oder dass ich einen Unfall hatte? Auch haben wir die Deutsche Botschaft endlich erreicht und die Situation geschildert aber da wir sozusagen schon "versorgt" waren, sollen wir uns nochmal melden falls sonstige Probleme auftreten. Der ADAC war aber eher bereit uns zu helfen und bot uns an, für uns beide die Flugkosten nach Deutschland zu übernehmen. Angesichts der Tatsache, dass ich im Iran schon am nächsten Tag operiert werden konnte und die medizinische Versorgung vorhanden war, war das die beste Entscheidung als die Behandlung in Iran zu verweigern und einen Krankentransport nach Deutschland zu organisieren, der weitaus mehr gekostet hätte und vor allem viel länger gedauert hätte wegen der bürokratischen Hürden. Nicht zu vergessen dass der Iran ein sanktioniertes Land ist. Beim Knochenbruch ist schnelles handeln wichtig und kann den Unterschied machen zwischen guter Heilung oder Beinamputation im schlimmsten Fall. Es blieb nur die Frage, können wir den Iran ohne die Motorräder verlassen? Von den Krankenversicherung wurde uns mittgeteilt, wir sollen alle Rechnungen aufheben und in Deutschland die Rückerstattung beantragen.
Was kostet uns das alles?
Wir haben mehrmals nach den Krankenhauskosten gefragt und betont, dass wir das bezahlen möchten und dass wir eine Versicherung haben. Auch wollen wir der Familie was geben denn die gaben sich bis jetzt so viel Mühe. Keine Chance. Ein Lächeln von Mr. Shirazi und sein Lieblingssatz: "no estress". Ja, ok, aber wir wollen wirklich zahlen, was kostet uns das alles?"No estress." Als selbst der zwanzigste Versuch scheitert, hoffen wir das alles klären zu können, wenn Ayoub (Shirazis Schulfreund aus Deutschland) kommt. Denn sein Besuch wurde angekündigt.
Medizin?
Eine Woche vergeht, ich habe gar keine Schmerzen obwohl ich gar keine Medikamente genommen habe. Das war schon mal gut, dass ich keine Schmerzen habe, das heißt die Knochen sind gut gerichtet worden aber dass ich gar kein Medikament nehmen muss, macht mich doch irgendwie stutzig. Susi erinnert sich, dass ihr Bruder nach dem Beinbruch immer Thrombosespritzen bekommen musste und macht sich Sorgen. Mittels Übersetzer vergewissert sie sich bei Shirazi, ob ich wirklich keine Medikamente nehmen muss. "Nein" meinte er, "nur wenn er Schmerzen hat, gibt es Zäpfchen gegen Schmerzen.* Nein, danke.
Besuch beim Arzt
Im Krankenhaus hieß es, ich soll in einer Woche beim Arzt in seiner privaten Praxis vorbei schauen zur Nachuntersuchung. Mr. Shirazi hat einen Termin für mich organisiert. Die größte Herausforderung ist es, die Treppen runter zu kommen mit den Krücken. Suzi läuft rückwärts vor mir und versucht mein Bein ruhig zu halten so dass ich nirgends dran komme. Auf der Ebene komme ich ganz gut voran. Es geht dann mit seinem Privat-Auto, in eine überfüllte Praxis in Meragha, die Stadt wo ich operiert wurde. Ich werde vorgezogen. Im Vorgespräch meint der Assistent, dass ich in zwei bis vier Wochen wahrscheinlich wieder laufen könne, was unsere Reisepläne wieder erneut befeuert. Vielleicht doch die ganze Reise ohne Mongolei? Oder alles einfach schneller? Visa verlängern? Motivation keimt auf. Der Assistent ist keineswegs zimperlich und zeigt Susi Übungen, die sie mit mir machen kann um Beweglichkeit und Muskeln zu erhalten. Sie sieht, welche Schmerzen mir das bereitet und kippt fast um. Dann wollte sich der Assistent vergewissern dass ich die Thrombose-Spritzen, die Antibiotika, die Vitamine und die Medikamenten x und y regelmäßig nehme. Ich sagte nein, nichts. Er machte große Augen und meinte "wie nichts"? Ich zuckte mit dem Schultern und schaute zu Shirazi. Alle schauen zu Shirazi. Dann folgte ein Gespräch wo der Assistent auf ihn einredet, Shirazi aber nicht viel sagt. Ich muss warten, der Arzt soll vorbei schauen. Als er den Raum betritt, schüttelt er erst Mr. Shirazis Hand, schaut ihm in die Augen und verpasst ihm dann eine "kumpelhafte" Ohrfeige. Mr. Shirazi versucht zu lächeln. Keine Ahnung ob sie sich persönlich kennen oder weil er die Sache mit den Medikamenten verbockt hat, keine Ahnung was das eben bedeutet, aber es war das erste mal, dass Mr. Shirazi nicht so selbstbewusst war wie bis jetzt. Der Arzt sagt mir wieder nichts und drückt nochmal auf mein Knie. Er scheint zufrieden zu sein und gibt dann seinen Assistenten irgendwelche Anweisungen und redet noch irgendwas mit Shirazi. Mein Bein wird neu verbunden und ich bekomme eine Liste mit Medikamenten, die ich ab sofort nehmen soll. Zurück beim Auto zerknüllt Shirazi den Strafzettel am Auto, wirft ihn weg und holt erstmal jedem ein iranisches Eis zur Aufmunterung.
Ramadan
Im Iran beginnt jetzt der Ramadan. Während des Ramadans verzichten Gläubige auf Essen, Trinken und andere körperliche Bedürfnisse von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Es ist auch eine Zeit zur Besinnung, Reflektion und zur Vertiefung des Glaubens. Der Ramadan ist eine wichtige religiöse Praxis im Islam und hat eine tiefgreifende spirituelle Bedeutung für viele Muslime. Wir wussten dass es wir währenddessen im Iran sein würden, haben aber natürlich nicht erwartet dass wir diese Zeit in dieser Situation erleben werden. Dennoch waren wir gespannt, wie es sein wird, sie zusammen mit einer muslimischen Familie es zu erleben. Natürlich kamen schon am ersten Tag bei Mr. Shirazis Familie die Frage welcher Religion wir denn angehören. Wir sagten "wir sind Christen aber wir respektieren eure Religion". Ich denke sie waren zufrieden mit unserer Antwort. Als sich die Ramadan Zeit nähert, erklärt uns Shirazi einige der Regeln, Bräuche und Traditionen bezüglich dieser besonderen Zeit. Sie scheinen sich darauf zu freuen und erklären uns was abends nach der Fastenzeit für leckeres Essen geschlemmert wird. Er verspricht uns am ersten Abend des Ramadan mit uns in die lokale Moschee zu fahren, dass wir an der besonderen Zeremonie teilnehmen können. Der erste Tag des Ramadan ist wichtig, weil er den Beginn des Fastenmonats für Muslime darstellt. Wir waren wirklich gespannt.
Besuch bei Hamid
"Ich bin jetzt groß. Ich bin ein Mann. Ich faste ab heute am Ramadan.", eröffnet der etwas pummelige elfjährige Hussein stolz. Er hält auch durch - bis zum Mittagessen. Azize serviert uns aber wie jeden Tag leckeres Essen, denn wir sind keine Muslime und ich bin noch dazu krank und wir sind Reisende - wir müssen also nicht fasten (puh - Glück gehabt!). Wie versprochen, machen wir uns abends fertig für den Moschee-Besuch. Ich bin endlich wieder rasiert und Azize gibt Susi mit mitleidigem Blick etwas Schminkzeug. Ungeschminkt und ohne Goldschmuck fällt sie stark auf. Stufe für Stufe geht es mit den Krücken runter zum Auto dann durch dichten Verkehr. Es ist schon später Nachmittag. Azize sitzt vorne mit Yasin auf dem Schoß neben Mr. Shirazi und schreit ab und zu: "Yavash!" (Achtung!). Anscheinend mag sie seine Fahrweise nicht. Wir sitzen hinten mit Hussein, mein Bein ist ausgestreckt auf der Sitzbank. Wir parken vor der Moschee. Shirazi verschwindet darin und wir warten. Er sagt zwar nichts als er zurückkommt, aber wir betreten die Moschee nicht. Planänderung. Wir fahren zu Hamid, Shirazis Mitarbeiter und seine Familie aufs Dorf. Bei Hamed müssen wir noch warten bis die Sonne untergeht und der Muezzin zum Gebet ruft. Mr. Shirazi hat mit Kopfschmerzen zu kämpfen, kein Wunder wenn man auf einmal aufhört zu essen und zu trinken, das kenne ich auch. Dann wird Essen aufgetischt. Nicht auf dem Tisch sondern auf Decken auf dem Boden. Wir bekommen auch eine Vorführung wie man Perserteppichen ganz traditionell von Hand knüpft. Die Mutter von Hamid arbeitet gerade an einem und zeigt es uns. Wir können ihre Hände kaum verfolgen so schnell bewegt sie diese und trotzdem arbeitet sie mehrere Monate daran bis dieses Meisterwerk fertig wird. Was für ein Wahnsinn. Es gibt Çorba, super leckeren Reis mit gebratenem Hühnchen, Kartoffeln und verschiedenen Salaten mit viel Grünzeug. Das Essen ist super lecker und ich muss mir nochmal Nachschlag holen. Zu trinken gibt es Ayran oder Süßgetränke und zum Schluss gibt es Dessert. Dann wird viel geredet und gelacht von dem ich aber nicht viel verstehe.
Bericht von Susi
Nach dem Essen verschwinden alle Frauen in einen Nebenraum und mir wird bedeutet, dass ich auch mit soll. Auch während des Essens saßen schon alle Männer auf der einen und alle Frauen auf der anderen Seite, nur ich war neben Samu. Ok, dann eben in den Nebenraum. Kopftücher werden ausgezogen, Tee wird getrunken, es wird getratscht. Ich führe einige Gespräche auf Farsi. Sag mal - habt ihr denn kein Schminkzeug im Deutschland? Warum trägst du keinen Goldschmuck? Seid ihr etwa nicht verheiratet? Eine der Frauen ist Englischlehrerin. Das hat sie jedenfalls studiert. Trotzdem kann ich mich nicht mit ihr unterhalten, bei der Frage "Do you work?" hört ihr Englisch schon auf. Es ist etwas langweilig für mich, eigentlich wäre ich lieber bei Samu. Aber es ist ja eigentlich auch etwas besonderes mal in diesem "Frauenbereich" zu sein. Nur Kleinkinder passieren die Türe ungehindert und fungieren als Boten. Männer müssen anklopfen, Frauen ihr Kopftuch anziehen, wenn sie die anderen Räume betreten möchten.
Besuch aus Deutschland und sensible Themen
Ayoubs Besuch wird mehrmals angekündigt und verschoben. Kein Wunder. Es ist kompliziert. Er ist aufgrund politischer Verfolgung aus dem Iran geflohen und kann deswegen nur mit einem fremden Pass einreisen. Er hat große Angst vor der Reise aber auch davor von Mr. Shirazi verpfiffen zu werden. Die beiden sind zwar Schulfreunde aber ihre politischen und religiösen Ansichten könnten nicht weiter auseinandergedriftet sein. Shirazi unterhält sich gerne mit uns, auch über sensible Themen, wie Krieg, Terror, Religion und Politik. Er erzählt uns vom Iran-Irak Krieg in den 80er Jahren und zeigt uns Bilder mit Verwandten, die in diesen Krieg gestorben sind. Fast alle Familien im Iran und Irak haben Mitglieder in diesem sinnlosen Krieg verloren. Auch erklärt er uns die unterschiede zwischen Schiiten und die Sunniten und die Unterschiede in der politische Entwicklung zwischen Saudi Arabien und dem Iran. Natürlich kommt auch das Thema Terrorismus und Shirazi versichert uns dass es im Iran keine Terroristen gibt und der IS (Islamischer Staat) hier nicht aktiv ist. Wir sagen offen unsere Meinung aber stellen niemals den Anspruch, dass das die einzig richtige Wahrheit wäre. Wie sollen wir es denn besser wissen als die Iraner selbst, was für sie und deren Zukunft von Vorteil wäre? Ganz besonders lustig findet Shirazi einen der ersten Sätze von Susi, als er sie mit dem Auto mitgenommen hat: "Mardom Amerika khub, Politik bad." Was so viel heißt, dass die Menschen gut sind aber die Politik schlecht. 2018 hat die Beziehung zwischen den USA unter Trump und dem Iran eine neue Eskalationsstufe erreicht. Die USA kündigen einseitig ein umstrittenes Abkommen und schotten den Iran dadurch weiter ab. Im Iran gibt es Proteste und sie kündigen ihrerseits Gegenmaßnahmen an, auch wurde de Handel mit Dollar eingeschränkt und dessen Wert sank massiv, was auch uns schlussendlich betraf.
Besuch von der Polizei
An einem Nachmittag kommen wichtige Leute von der Polizei, um sich über uns zu erkundigen, zu Besuch. Azize versteckt sich unter ihrem Tschador, das wie eine Decke über Kleidung und Kopftuch gelegt wird. Die Sache wird ernst genommen. Die Tür geht auf. Alle stehen auf. Wir nicht. Mist! Schon wieder eine Taarof-Regel gebrochen. Es wird Tee und Wassermelone serviert. Sie stellen uns allgemeine Fragen nach Herkunft, Familienstand, Kinder, Schulausbildung und Beruf. Mr. Shirazi regelt das mit der Polizei so, dass im Bericht steht, dass mein Unfall durch ein iranisches Fahrzeug mit Fahrerflucht entstanden wäre, das erleichtert die bürokratischen Hürden und das alles ohne uns zu Fragen. Auch ist niemandem aufgefallen, dass wir gar keine KFZ-Versicherung haben. Das ist im Iran nicht so wichtig aber es ist auch niemand sonst zu Schaden gekommen außer wir selbst. Noch sind die Motoräder bei der Polizei aber Shirazi ist zuversichtlich, dass sie sie bald rausgeben. Unglaublich, wie viele Beziehungen und wie viel Macht dieser Mann hat. Jedenfalls ist er sowohl im Krankenhaus, als auch bei der Polizei bekannt und geachtet.
Besuch vom Orthopäden
Der Orthopäde (Dr. Hussein Nejad) aus Malekan, der zum Unfallzeitpunkt im Urlaub war, dennoch aber von uns hörte ist wieder da und erfährt im Krankenhaus dass wir gerade in Malekan bei Mr. Shirazi sind. Er will die Gelegenheit uns kennenzulernen nicht verpassen, kontaktiert Mr. Shirazi und kommt zu Besuch. Das war überraschend. Er spricht super Englisch dennoch scheint er eingeschüchtert. Er hat eine ganz andere Meinung über die Regierung im Iran, vielleicht hat er Angst, vor Shirazi negativ über die Regierung zu sprechen. Zum Glück versteht Shirazi kein Wort Englisch. Jedenfalls schildere ich ihm meine Schmerzen im Bein wenn ich z.B. aufstehen möchte und als wir ihm sagen, dass ich eine Woche lang weder Medikamente genommen, noch Physiotherapie gemacht habe, ist ihm schnell klar: Wahrscheinlich Thrombose. Das iranische Wochenende steht an und erst danach können wir zum Ultraschall für die Untersuchung. Er verspricht uns zu helfen, gibt uns Tipps und er würde sich nach der Ultraschall Untersuchung nochmal melden.
Ultraschall
Um dorthin zu kommen, sitze ich quer auf der Hinterbank im Auto, das Bein in der Schiene gestützt. Susi halb am Boden, Shirazi und Hussein vorne. Mit Krücken geht es die Treppen nach oben. Viele Leute warten. Ich darf vor. Es geht schnell, das Gerät einige Male hin und her und es steht fest: Tiefe Venen Thrombose. Shit happens. Immerhin verschreibt er mir jetzt stärkere Thrombosespritzen, die ich eigentlich gleich im Anschluss auf den Krankenhausaufenthalt bekommen hätte sollen. Das war nicht gut. Ich wusste nicht mal richtig was das bedeutet. Später habe ich googlen müssen. Es heißt: Thrombose ist sehr gefährlich und kann im schlimmsten Fall Lungenembolien, Herzinfarkt und Schlaganfälle verursachen und braucht eine dreimonatige medikamentöse Behandlung. Na super, das hat auch noch gefehlt.
Motoräder
Inzwischen hat sich die Polizei bei Shirazi wieder gemeldet und sie haben sich bereit erklärt die Motoräder frei zu geben. Laut Gesetz hätten wir sie persönlich abholen müssen aber das war ja nicht möglich. So musste Shirazi eine beglaubigte Erklärung abgeben, wo drin stand dass wir mit den Motorädern das Land verlassen, wir sie nicht dort zu verkaufen versuchen und wir sonst auf weitere Ermittlungen und Forderungen bezüglich des Unfall mit "Fahrerflucht" verzichten. Das erledigt Shirazi mit seinem Anwalt. Susi und Ayoub müssen hinfahren und sie Abholen. Vom gebrochenen Kupplungshebel wusste ich schon aber was sonst kaputt war, wusste ich nicht. Ich habe Susi gebeten ein paar Bilder zu machen.
Bericht von Susi
Oh nein, schon wieder zur Polizei. Beim Eingang wieder die selbe Prozedur, wie letztes Mal: Handy abgeben (auch Shirazi), mich anmotzen, warum ich kein Tschador (die großen Zelt-Tücher) trage, Ayoub nimmt mich in Schutz, da ich Touristin bin. Wir dürfen rein. Ich sehe die Motorräder. Meine Emotionen wenden sich um 180 Grad von Einschüchterung zu Mut. Das ist mein Motorrad und ich darf das als Frau fahren - ihr iranischen Polizisten nicht. Bevor wir losfahren muss Ayoub noch den Kupplungshebel, den wir mitgenommen haben montieren. Das gelingt ihm zum Glück schnell. Ich starte den Motor. Sie springt an. Samus Motorrad auch. Helm übers Kopftuch, Grinsen im Gesicht. Los geht's. Weg von hier. Wir fahren zu Hamed, wo die Motorräder in der Tiefgarage bleiben sollen, bis wir sie abholen. Ich mache, wie versprochen ein paar Bilder. Zum Glück lässt sich aber kein größerer Schaden erkennen, vor allem den linken Koffer von Samu hat es getroffen.
Ernüchterung
Wieder ein Besuch von Dr. Hussein Nejad. Er macht uns unmissverständlich klar, dass ich drei Monate mindestens brauche um wieder zu laufen und empfiehlt uns nach Deutschland zurückzufliegen, damit wir weitere Komplikationen vermeiden und das mit der Behandlung der Thrombose und der Physiotherapie besser klappt. Die neu gewonnene Motivation bricht zusammen, Susi kann sich nicht mehr zurückhalten und heult, wie ein Schlosshund. Es ist vorbei. Es macht keinen Sinn mehr hier zu bleiben. Ayoub und Shirazi helfen uns und die Flüge und die Tickets werden organisiert, Dr. Nejad stellt mir ein Papier aus, dass ich wegen der Thrombose liegend mit hochgelagertem Bein transportiert werden muss. Morgen Abend fliegen wir zurück nach Deutschland.
Was kostet das alles, Geld, Abrechnung
Jetzt war es aber endgültig an der Zeit unsere Schulden bei Mr. Shirazi zu begleichen. Wir machen Druck und haben nun Ayoub zur Übersetzung an unserer Seite. Nach nochmaligem versichern, dass wir genug Dollar dabei haben und wir eine Auslands-Krankenversicherung haben, klappt es schließlich und wir rechnen den Gesamtbetrag (über 1.000$!) aus. Gut, dass Susi die Zahlen und Buchstaben hier lesen kann, das Hilft uns später mit der Versicherung sehr. Außerdem wollen wir, dass Ayoub die Familie fragt, was wir ihr für Kost und Logie schulden - Azize hat uns ja von früh bis spät verwöhnt. Ayoub beißt sich auf die Hand und gibt uns zu verstehen, dass wir gerade etwas falsch machen. Es ist eine Beleidigung für Muslime danach zu fragen, denn Gastfreundschaft wird wirklich sehr groß geschrieben. Ups... Wir haben das mit dem Taarof und so immer noch nicht drauf. Wir können uns aber nicht vorstellen wie wir uns bei dieser netten Familie jemals revanchieren können. Wir haben ihnen nur die Geschenke geben können, die wir für Kinder, die wir auf der Reise treffen, dabei hatten. Es waren einige Spielzeugautos und Ballons.
Besuch bei Hamed (Shirazis Freund)
Der letzte Tag im Iran bricht an. Letztes Frühstück bei der Familie. Hussein ist traurig, dass wir gehen. Inzwischen konnte er sich super mit Susi unterhalten. Das letzte Mittagessen (nur wir und die Kinder, weil ja Ramadan ist). Das letzte Abendessen verbringen wir bei Hamed, einem Geschäftspartner von Shirazi und seiner Frau. Hamed war so nett und hat die Motorräder bei ihm in der Garage untergebracht. Die beiden empfangen uns alle (Familie Shirazi, Ayoub, Dr. Hussein Nejad und uns) in einer luxuriös eingerichteten Wohnung und tischen ordentlich auf, sobald die Sonne untergegangen ist. Wir freuen uns vor allem über Dr. Hussein Nejad, weil er Englisch spricht und uns nochmal Tipps für mein Bein gibt. Er hat sogar Geschenke für uns dabei: CDs mit iranischer Musik und eine Orthese (eine orthopädische, flexible Schiene für mein Bein). Es ist uns wirklich unangenehm, wie sehr sich die Leute hier um uns kümmern und dass sie so viel Mühe und Geld für uns aufwenden und wie wenig wir zurückgeben können und dass wir noch dazu gegen so viele Taarof-Regeln verstoßen. Der Abend vergeht schnell, wir fahren zurück und müssen uns für den Flug fertig machen.
Abschied
Wir bedanken uns bei Azize, die Susi schon als ihre Tochter bezeichnet, Kuscheln ein letztes mal mit Yasin. Der Koran wird über unsere Köpfe beim Verlassen der Wohnung gehalten um uns dem Abschiedssegen zu erteilen. Etwa 140km fährt Shirazi in der Nacht mit uns bis nach Täbris zum Flughafen. Die Fahrt war schon ein bisschen anstrengend. Keine Ahnung wie der Flug wird. Um Mitternacht soll der Flieger nach Istanbul starten. Wir sind gespannt. Am Flughafen organisiert Shirazi einen Rollstuhl und wir werden bei den Kontrollen vorgezogen. Wir bekommen die Ausreisestempel ohne Probleme, bei der Sicherheitskontrollen schauen sie etwas komisch wegen meinem Bein aber ich komme trotzdem durch. Susi muss einen separaten Weg gehen der nur für Frauen bestimmt ist und nur von Frauen bedient wird. Sie sind alle sicher, das Susi Iranerin ist. Nochmal herzlich zu Shirasi, Ayoub, Azize, Yassin und Hussein winken und los geht's.
Abflug
Der ersten Etappe von Täbriz nach Istanbul klappt ganz gut. Der Flieger war nur halbvoll. Wir haben eine ganze Sitzreihe für uns, ich kann mein Bein ausstrecken. Auch der Umstieg klappt reibungslos. Das war uns nie bewusst, aber es gibt extra Personal und Rollstühle für Fälle, wie meinen. Beim nächsten Flug wird mir dann nur ein normaler Sitzplatz zugewiesen aber Susi schafft es die Angestellten zu überzeugen, uns eine Sitzreihe zu gönnen. Im Flieger verabreiche ich mir die Thrombose Spritze selbst. In München holt uns Susis Bruder ab, der uns direkt ins örtliche Krankenhaus bringt, wo ich nach fünf Stunden Warten, stationär aufgenommen werde. Der Chefarzt ist von der Persischen Geschichte und Kultur begeistert. Er erzählt uns wie weit die Perser die Medizin entwickelt haben. Trotzdem ist niemand in der Lage die Iranischen Dokumente zu entziffern denn sie waren wichtig für die weitere Thrombose Behandlung. Dann musste ich nochmal zum Ultraschall wo die Thrombose nochmal bestätigt wird und zum Röntgen. Beim betrachten der Röntgenaufnahmen kann keiner was negatives sagen. Die Iranischen Ärzte haben gut gearbeitet. Die Fäden werden dann gezogen und der Genesungsprozess beginnt. Täglich Physiotherapie, Anpassung der Medikation. Ich bekomme Krücken, eine Orthese zum stabilisieren und einen Thrombosestrumpf. Nach vier Tagen darf ich nach Hause.
Genesung
Nach der Entlassung sind Susi und ich jeden Tag draußen, lesen viel, ich habe mehrmals die Woche Physiotherapie. Ich habe keine Schmerzen oder sonstige Beschwerden, trotzdem kommt es mir anfangs so vor als würde nichts voran gehen. Ich spüre keine nennenswerte Verbesserung. Nach zwei Monaten heißt es es, ich soll langsam mein Bein belasten aber es geht kaum. Ich werde nie wieder laufen, meinte ich demotiviert. Trotzdem lässt die Physiotherapeutin nicht locker und ich muss Kilo für Kilo immer mehr belasten. Zuerst konnte ich kaum 4kg auf die Wage drücken aber dann ging es spürbar schneller voran und ich konnte jeden Tag mehr Gewicht auf das Bein verlagern. Nach 3 Monaten kann ich schon eine Krücke weglassen und gut Fahrrad fahren.